Exkursion

„Digitalisierung. Was passiert in unseren Köpfen?“ 

Donnerstag, 17. Juni 2021

Bildungshaus Batschuns

Prof. Dr. Reto Eugster 

50 Teilnehmer/innen

 

Nach 2018 konnte ALTER-nativ bereits zum zweiten Mal Prof. Eugster gewinnen, um über das hochaktuelle Thema der Digitalisierung zu referieren. Ging es damals um deren Potenziale und Gefahren für ältere Menschen und eine mutmachende Aufforderung, die neuen Technologien aktiv zu nutzen, konzentrierte sich der Referent diesmal darauf, wie Digitalisierung unseren unmittelbaren Alltag verändert (hat) und damit auch Denkmuster, Einstellungen und Gefühle beeinflusst. Zuerst räumte er auf mit dem Vorurteil, dass Ältere weniger Medienkompetenz hätten; lediglich ihre Nutzungssysteme unterscheiden sich von denen der Jungen.

 

Anhand von drei eindrücklichen Fallbeispielen – konkrete Personen aus drei Generationen – konnte er zeigen, wie stark die Sozialisation (im Kindes- und Jugendalter) mit dem gerade vorherrschenden Leitmedium (Buch/Zeitung/Radio – Fernsehen – Handy/Internet) unsere Gewohnheiten, Erwartungen und auch Alltagsbewältigung prägt. Die „Welt in der Hosentasche“ (Handy) bietet heute Wissenserwerb, Kommunikation und Vernetzung, Konsum, Unterhaltung, Navigation, Selbstentwurf und Selbstvermessung. Die Fernsehgeneration hat gelernt, dass Bilder oft mächtiger sind als Argumente, dass die Welt in das eigene Zuhause kommt, dass wir bei Ereignissen „dabei“ sein können. Menschen, die noch ausgiebig Briefe schrieben und Telegramme verschickten, müssen heute zur Kenntnis nehmen, dass die Post hauptsächlich nur noch Pakete für Internetbestellungen und Retouren abwickelt. Wenn heute 3,8 Milliarden Menschen bei Social Media registriert sind und 6000 Tweets pro Sekunde abgesetzt werden, können Ältere schnell das Gefühl bekommen, abgehängt und ausgegrenzt zu werden. Andererseits hat uns gerade die Corona-Pandemie gezeigt, wie lebensnotwendig die Kommunikation mit den eigenen Bezugspersonen ist, und sei es digital über Handy, Zoom oder Facetime.

 

Wie Prof. Eugster ausführte, befinden wir uns derzeit noch in einer Phase des Übergangs, aber viele unwiderrufliche Fakten wurden bereits geschaffen: Bankdienste werden zunehmend digitalisiert; die Arbeitssuche verlagert sich auf die Suche von Kandidaten mittels Algorithmen; Patientenplattformen bündeln Erfahrungen von tausenden Personen zu bestimmten Krankheiten und verändern so den Arzt-Patienten-Dialog; über das Feedback zu Firmen, Restaurants oder verschiedenen Dienstleistungen beeinflussen wir direkt das Wirtschaftsleben; Assistenzsysteme („Bots“) liefern uns Informationen zu uns wichtigen Themenbereichen.

 

Unter dem Stichwort „Google kennt dich besser als dein/e Partner/in“ verwies der Referent auf die Menge von Daten, die über uns gesammelt werden oder die wir freiwillig von uns geben und die einen wertvollen Rohstoff im Wirtschaftsleben darstellen. Eine Konsequenz der fortschreitenden Digitalisierung sei die Tatsache, dass wir mit Kontrollverlust leben müssen und dadurch mehr Vertrauen nötig sei. Wenn eine Entwicklung „normal“ geworden ist, stellen wir sie weniger in Frage und nehmen auch die Risiken nicht mehr entsprechend wahr. In diesem Zusammenhang wurden in der Veranstaltung auch die elektromagnetische Strahlung von Handys (SAR-Wert), die Möglichkeiten der Überwachung und die militärische Nutzung diskutiert.

 

Schließlich ging Prof. Eugster auf die Kernfrage ein: „Wie entstehen die neuen Selbstverständlichkeiten des Internet-Zeitalters?“ Zum einen ist unsere Alltagsbewältigung durchdrungen von vielen neuen digitalen Diensten, die unbemerkt ablaufen und die wir mehr oder weniger nutzen. Das Internet ist Alltag. Unsere Erwartungen, gerade hinsichtlich Kommunikation und Konsum, haben sich bereits verändert: man erwartet sich rasche Rückmeldungen auf Nachrichten oder Anfragen – eine „Strom-Kommunikation“ wird aufgebaut anstelle von einzelnen Kommunikationsakten. Produkte werden dort bestellt, wo sie am günstigsten zu haben sind – ohne Rücksicht auf Ressourcenverschwendung, Transportwege, Arbeitsbedingungen oder die Bedeutung von lokalen Kreisläufen. Erwartungen an das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung oder die Mobilität verändern sich mit rasanter Geschwindigkeit. So entstehen in Folge auch neue Denkmuster und Verhaltensweisen.

 

Neue Entwicklungen waren aber immer schon mit Ängsten und Zweifeln verknüpft. So hielt man die Eisenbahn im 19. Jahrhundert zunächst für extrem gesundheitsschädlich. Fernsehen und Videospiele wurden ebenfalls schon früh pauschal angeprangert für ihren angeblich verdummenden oder verrohenden Einfluss. Und so gilt es, den digitalen Fortschritt zu erkennen und zu nutzen, ohne die Aufmerksamkeit für die Risiken und Gefahren außer Acht zu lassen.

 

Prof. Dr. Reto Eugster

Fachhochschule St. Gallen, Sozialarbeiter, Bildungswissenschaftler, Mediator, Supervisor, Medienfachmann

 

 

Edith Lutz

Team ALTER-nativ